Newsletter Interview: 10 Jahre Arbeitskampf bei Amazon Bad Hersfeld

06.06.2023

Newsletter Redaktion: Seit 10 Jahren kämpft ver.di um die Aufnahme von Tarifverhandlungen mit dem Internet-Versandhändler Amazon. Ein Tarifvertrag wurde bis jetzt nicht erreicht, aber es gab Erfolge. Mechthild, du hast die ganzen 10 Jahre miterlebt, hast als Gewerkschaftssekretärin fast alle Streiks mit organisiert, warst vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung bei jedem Wetter vor dem unförmigen gelben Gebäude in Bad Hersfeld. Wie blickst du zurück?

Mechthild Middeke: Der Arbeitskampf bei Amazon war das Highlight meiner hauptamtlichen Gewerkschaftsarbeit, ich blicke ja nun als Rentnerin darauf zurück. Es ist etwas Besonderes, über eine so lange Zeit mit aktiven Amazon Kolleginnen und Kollegen diesem mächtigen Konzern immer wieder zu zeigen: ihr kommt an den Beschäftigten nicht vorbei, sie wollen Mitsprache über ihre Einkommen und Arbeitsbedingungen, sie fordern verlässliche Regelungen in Form von Tarifverträgen. Auch wenn ich mich frühmorgens wirklich manchmal aufraffen musste, kann ich mich an keinen Streiktag erinnern, der am Ende nicht ein zufriedenes Gefühl bei mir hinterlassen hat. Ein Streiktag gibt vor allem Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen, von den Schwierigkeiten im Arbeitsalltag zu erfahren und oftmals persönliche Probleme zu besprechen. Aber es gab natürlich auch kämpferische Streikversammlungen vor dem Betrieb und in der Bad Hersfelder Schilde-Halle als Streiklokal, öffentlichkeitswirksame Aktionen und Demos, wir haben  nicht-streikende Beschäftigte angesprochen und mit ihnen diskutiert, ebenso LKW-Fahrer bei der Anlieferung. Es gab ein mehrtägiges Streikcamp und viel Solidarität, die den Streikenden entgegengebracht worden ist. Dann haben wir im Laufe der Jahre unterschiedliche Streikformen ausprobiert, insbesondere Streikaufrufe aus dem laufenden Betrieb. Da wurde sehr spontan und aus einem aktuellen Anlass, in Rücksprache mit mir, von den Aktiven der Streikleitung zum Streik aufgerufen. Wenn im Betrieb plötzlich Trillerpfeifen zu hören waren, wussten alle: jetzt ist es soweit, ver.di ruft zum Streik.
Die Pandemie hat uns einen großen Schlag versetzt. Doch es ist uns gelungen, die Empörung darüber, dass Amazon enorme Umsatz- und Gewinnsteigerungen hatte und Beschäftigte mit Brotkrumen abgespeist hat, in noch mehr Kampfbereitschaft umzuwandeln. Es gab einen Schub in der Mitgliederentwicklung und bei der Beteiligung an den Streiks. Im ersten Jahr der Pandemie lag die Streikbeteiligung bei 400 bis 500 Streikenden und hat sich dann nahezu verdoppelt.
Ich konnte Ende 2022 mit dem guten Gefühl in Rente gehen, dass es bei Amazon eine breite ver.di Basis im Betrieb gibt und aktive Vertrauensleute die gewerkschaftliche Arbeit voranbringen.

 

 

Newsletter Redaktion: Die ersten Jahre war jeder Streik noch eine kleine Sensation. Alle Medien wollten unterrichtet werden, viele Journalisten waren vor Ort, später nahm das öffentliche Interesse ab. Wie motiviert man sich und die Beschäftigten, weiter zu machen?

Mechthild Middeke: Die Motivation der Beschäftigten speist sich in erster Linie aus den vielen betrieblichen Ärgernissen, die sie alltäglich erfahren. Davon gibt es immer wieder reichlich und man kann staunen, was sich das Management alles einfallen lässt, um die Leute auf die Palme zu bringen. Natürlich ist es willkommen, wenn in den Medien berichtet wird und es gab auch viel Solidarität aus anderen gewerkschaftlichen Bereichen und politischen Gruppen und Parteien.

Newsletter Redaktion: Wie ist deine Prognose, wird der Konzern noch irgendwann mal einknicken?

Mechthild Middeke: Wenn wir uns bewegen, bewegt sich Amazon. Seit Beginn des Arbeitskampfes gibt es jährliche Lohnerhöhungen. Die monatliche Bezahlung ist teilweise schon auf dem Niveau des Tarifvertrags. Auch hat die Forderung nach einem Gesundheitstarifvertrag dazu geführt, dass Amazon ein Gesundheitsmanagement eingeführt hat.
Für mich gilt: der Weg ist das Ziel. Wenn ver.di weiterhin die Beschäftigten organisiert (und das ist kein Selbstläufer, da es eine hohe Fluktuation gibt) und durch Streiks immer wieder Präsenz vorm Tor zeigt, dann wird es Verbesserungen bei der Bezahlung und den Arbeitsbedingungen geben, auch wenn Amazon sich vermutlich noch lange sträuben wird, einen Tarifvertrag zu unterzeichnen.